Dienstag, 11. Juni 2013

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse, Stufen

Samstag, 24. November 2012

Unsterblich



Obwohl du Geschichte studierst, interessierst du dich nie für Genealogie. Es ist dir recht egal, wo deine Familie herkommt, was deine Großeltern geschafft haben, deine Urgroßeltern. Du hast von deinen Eltern nur wenig erfahren, das reicht dir aus: Der Vater deines Vaters war Brauereiarbeiter, starb im Krieg vor Kiew. Er hatte immerhin Stalingrad überlebt, musste aber zurück an die Front. Deine Oma, die nie wieder heiratete, lebte, bis du sieben warst, im ersten Stock eures Hauses mit deinem Onkel zusammen, dann habt ihr sie im Dorf begraben, sie hatte Krebs. Der Vater deiner Mutter, dein lieber Opa Willi, war Vorarbeiter im Stahlwerk, sein Vater wiederum ein Mann der Kirche, zusammen mit dem Pfarrer verbrachte er im Dritten Reich die Montage nach der Sonntagspredigt im Gestapo-Keller. Die anderen waren offenbar in der Partei. Die Familie deiner Großmutter, die Hausfrau war, kam ursprünglich aus Ostpreußen.

Du hattest jedenfalls nie den Eindruck, dass dich die Vererbungslinie dieser von dir innig geliebten Menschen in imposanter Weise auf deine Person auswirken würde. Eher gar nicht. Dich interessiert Genetik in der Schule, aber das beziehst du mehr auf Tiere. Menschen, das fühlst du instinktiv, sind anders. Natürlich sind sie blond oder auch nicht, natürlich sind die Augen blau oder auch nicht. Aber das hat einen anderen, tiefen Grund. Was und wie sie fühlen, denken oder wollen sowieso. Du wusstest lange nichts von Wiedergeburt, selbst in deinem Theologie-Studium stößt du nicht darauf. Als du damit bekannt wirst, leuchtet dir das sofort ein. Unsterblichkeit der Seele. Ewige Wiederkunft, zwar nicht des immer gleichen, aber doch fortschreitend …

Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muß es.
Ewig wechselnd.

Strömt von der hohen,
Steilen Felsenwand
Der reine Strahl,
Dann stäubt er lieblich
In Wolkenwellen
Zum glatten Fels,

Und, leicht empfangen,
Wallt er verschleiernd,
Leisrauschend
Zur Tiefe nieder.
                       
Ragen Klippen
Dem Sturz entgegen,
Schäumt er unmutig
Stufenweise
Zum Abgrund.

Im flachen Bette
Schleicht er das Wiesental hin,
Und in dem glatten See
Weiden ihr Antlitz
Alle Gestirne.

Wind ist der Welle
Lieblicher Buhler;
Wind rauscht von Grund aus
Schäumende Wogen.

Seele des Menschen
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!

(Goethe, Gesang der Geister über dem Wasser)